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Selbstheilungskraft: Hoffnung!

Ein Gast-Artikel von: Dr. Stephan Matthiesen


Unter Placebo-Effekten versteht man grob die Beobachtung, dass bereits durch die Erwartung einer Heilung die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert zu werden scheinen, selbst wenn bei einer Behandlung gar keine z. B. pharmakologisch wirksamen Substanzen verabreicht werden. Viele Studien zeigen, dass Placebo-Effekte weit verbreitet und von erheblichem Ausmaß sind, selbst bei schwer wiegenden Krankheiten.


Die Stärke der Selbstheilungskräfte löst immer wieder Erstaunen und Verwunderung aus. Doch stellen wir damit eigentlich die richtige Frage? Nein, meint Nicholas Humphrey in einem Beitrag zum 27th International Congress of Psychology 2000. Denn aus evolutionärer Sicht sind enorme Selbstheilungskräfte geradezu selbstverständlich — schließlich gibt es für Tiere in der Natur keine Ärzte oder Krankenhäuser; wer sich nicht selbst heilt, geht unter. Und auch die Alltagserfahrung zeigt, dass die meisten Verletzungen und Krankheiten ohne weitere Behandlung heilen. Die Frage ist vielmehr:


Wenn der Körper so große Selbstheilungskräfte hat — warum werden sie dann erst bei einer (Schein-)Behandlung aktiviert?

Aus evolutionärer Sicht hat die sofortige Heilung nicht unbedingt die höchste Priorität. Sicherlich ist es besser, gesund als krank zu sein. Doch andererseits bringt die (Selbst-)Heilung für den Körper auch Kosten. Die vollständige Bekämpfung etwa einer Grippe kostet den Körper viel Energie – wer einmal hohes Fieber hatte, weiß das. Oder: Eine Infektion im Verdauungsbereich kann der Körper durch heftigen Durchfall oder Erbrechen bekämpfen – aber er verliert dadurch auch Wasser und Nährstoffe. Daher muss der Körper stets die Vorteile einer schnellen Heilung gegen die Kosten des Heilungsprozesses abwägen.


Was nun besser ist, hängt von der Situation ab. Für unsere in freier Natur lebenden Vorfahren könnte beispielsweise gelten: Wenn genügend Nahrung zur Verfügung steht und keine Gefahr droht, dann kann es sich der Körper leisten, eine Krankheit gründlich zu bekämpfen und dafür viel Energie aufzuwenden. Anders ist die Situation, wenn es kalter Winter ist, Nahrungsmangel herrscht und man stets mit einem Angriff von wilden Tieren rechnen muss. In dieser Situation ist es aussichtsreicher, nicht alle Energie in die Heilung einer Krankheit zu setzen, sondern die Krankheit nur gerade einigermaßen unter Kontrolle zu halten, und stattdessen die Energie für kommende Zeiten zu sparen. Anders ausgedrückt:


Ob der Körper die Energie in Heilungsprozesse stecken soll, hängt vor allem davon ab, welche Situation für die nähere oder fernere Zukunft zu erwarten ist.

Im Laufe der Evolution könnte es daher vorteilhaft sein, wenn die Selbstheilungskräfte von der Erwartung und der Hoffnung auf eine gute Zukunft beeinflusst werden — der erste Schritt zum Placebo-Effekt.


Nun gut, aber heutzutage leben wir — zumindest in industrialisierten Ländern — nicht mehr in der Gefahr, während einer Krankheit von wilden Tieren angegriffen zu werden. In den allermeisten Fällen ist also heute die vollständige Heilung die vorteilhaftere Option. Warum sind also nicht alle Selbstheilungskräfte aktiv? Und warum spielt gerade der Glaube an die Wirksamkeit einer Behandlung eine Rolle?


Humphrey vermutet, dass dies einfach eine Folge dessen ist, auf welche Weise der Körper die Zukunftsaussichten beurteilt. Auch hier gelten wieder Ökonomie-Argumente, die wiederum nicht für unser heutiges Leben, sondern für ein Leben in freier Natur gelten. Denn eine wirklich detaillierte, rationale Analyse der Zukunftsaussichten kann nur durch höhere kognitive Prozesse geschehen — die sind aber aufwändig, weil das Gehirn für derart komplexe Aufgaben viel Energie benötigt. Außerdem läuft man dabei Gefahr, keine Denkressourcen für andere wichtige Aufgaben übrig zu haben. Für die generellen Überlebenschancen ist es daher besser, die kognitiven Prozesse an die Suche nach Nahrung, die Beobachtung der Umgebung und ähnliche häufige Aufgabenstellungen anzupassen.


Für die Beurteilung der Zukunftsaussichten und damit die Entscheidung, wie viel Energie in die Selbstheilung gesteckt wird, ist es hingegen im evolutionären Sinne erfolgversprechender, sich auf wenige einfache, schnell anwendbare, aber in den meisten Fällen brauchbare Faustregeln zu stützen. All die Situationen, in denen es typischerweise besser ist, Energie zu sparen, sind diejenigen, in denen wir uns ziemlich deprimiert fühlen: Wenn es kalt ist, wenn wir Hunger haben, wenn wir alleine sind usw. Demnach meint Humphrey, dass alle Zukunftserwartungen in der emotionalen Variable „Hoffnung“ (bzw. ihrem Gegensatz „Verzweiflung“) zusammengefasst werden, und die Heilungskräfte des Körpers hauptsächlich nur noch auf diese Variable reagieren: Alles, was Hoffnung erzeugt, sollte die Selbstheilungskräfte des Körpers fördern.


Im Falle einer Krankheit schlägt Humphrey vor allem drei „Hoffnung erzeugende“ Faktoren vor. Der erste ist die persönliche Erfahrung. Wenn eine Behandlung einmal erfolgreich war — aus welchen Gründen auch immer —, dann wird sie auch für die Zukunft mit einer Heilungserwartung verknüpft. Es handelt sich also um eine gelernte Komponente von Placebos. Als zweiten Faktor nennt Humphrey das rationale Argument. Eine Behandlung, von der man eine kausale Basis zu verstehen glaubt, ruft eine positive Erwartung hervor. Dabei muss man betonen, dass es hier nicht um einen wissenschaftlichen Nachweis geht, sondern darum, dass das Individuum aus dem individuellen Vorwissen und Weltbild eine rationale Erklärung finden kann — das können auch zutiefst unwissenschaftliche Vorstellungen sein nach der Art: „Wenn etwas stark wirken soll, muss es teuer sein, weh tun oder schlecht schmecken.“ Der dritte Hoffnung erzeugende Faktor ist das Auftreten von Autoritäten, wenn also derjenige, der die Behandlung vertritt, anerkannt ist — wobei auch hier wieder nur die subjektive Einschätzung der Autorität eine Rolle spielt.


Diese Mechanismen haben sich — so Humphrey — herausgebildet, da sie für unsere in der Natur lebenden Vorfahren gute Überlebenschancen boten. Der Placebo-Effekt entsteht also indirekt als Folge evolutionär sinnvoller Verhaltensmuster und läuft auch noch im modernen Menschen auf niedrigen kognitiven Ebenen, sozusagen intuitiv, ab.


„Die wirksamste Medizin ist die natürliche Heilkraft, die im Inneren eines jeden von uns liegt.“

– Hippokrates



Frau meditiert auf einem Berg-Gipfel.
Die Heilkraft aus dem Innern.


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